Didaktische Reduktion
Wie strukturiere ich kumulative mittel- und langfristige Lernprozesse?
Mit kumulativem Lernen wird eine Art des Lernens bezeichnet, bei der neue Informationen im bestehenden Wissen der Lernenden verankert und systematisch mit bereits vorhandenem Wissen verknüpft bzw. vernetzt werden. Auf diese Weise wird verhindert, dass isolierte Wissenselemente („Inselwissen“) entstehen. Idealerweise sollten Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit kumulativ lernen und auf diese Weise ein zunehmend tieferes Verständnis von zentralen fachbezogenen Inhalten entwickeln. Wie können nun mittel- und langfristige Lernprozesse strukturiert werden, um kumulatives Lernen zu ermöglichen? Mit mittelfristigen Lernprozessen sind hier Lernprozesse innerhalb von Unterrichtseinheiten gemeint, mit langfristigen Lernprozessen jene, die über mehrere Schuljahre hinweg stattfinden.
Die Unterstützung kumulativen Lernens liegt nur teilweise in der Hand von Lehrkräften. Eine wichtige strukturelle Grundlage für die Förderung langfristiger kumulativer Lernprozesse sind die Bildungs- und Lehrpläne auf den drei Bildungsstufen, dem Elementar-, dem Primar- und dem Sekundarbereich. Idealerweise sollten diese so aufeinander abgestimmt sein, dass die fachbezogenen Inhalte im Sinne eines Spiralcurriculums nicht nur einmal behandelt, sondern zu späteren Zeitpunkten wieder aufgegriffen, dann jedoch auf einem höheren Niveau und mit höherer fachlicher Komplexität erarbeitet werden. Auf diese Weise soll vernetztes Lernen und ein zunehmend tieferes Verständnis der fachlichen Konzepte erreicht werden.
Die Schülerinnen und Schüler können darüber hinaus erkennen, dass Themen nicht „abgehakt“ werden, sondern sinnvoll und in kohärenter Weise aufeinander aufbauen. Leider steht diese Abstimmung von Curricula in Deutschland erst am Anfang. Vielfach tauchen Themen in den Lehrplänen auf, bei denen keine klaren Bezüge zu vorher Gelerntem hergestellt werden.
Was können Lehrkräfte dann tun, um kumulatives Lernen zu unterstützen? Sie können – im Rahmen der strukturellen Bedingungen - versuchen, Themen vertikal und horizontal zu vernetzen. Mit vertikaler Vernetzung ist gemeint, dass innerhalb eines Faches Bezüge zwischen Unterrichtsthemen bzw. fachlichen Konzepten hergestellt werden, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten erarbeitet werden. Mit horizontaler Vernetzung ist das Herstellen überfachlicher Bezüge gemeint, bspw. zwischen Konzepten, die im Chemie- und im Physikunterricht behandelt werden. Das Energiekonzept ist z.B. ein Konzept, das sowohl im Chemie- als auch im Physikunterricht thematisiert wird. Damit hier kein Inselwissen entsteht, ist es wichtig, Parallelen und Spezifika des chemischen und des physikalischen „Blicks“ auf dieses Konzept herauszuarbeiten. Dafür ist ggf. die Kooperation verschiedener Fachlehrkräfte erforderlich.
Ein zentraler Ansatz zur Strukturierung von Unterricht, um kumulatives Lernen zu unterstützen, ist das Konzept der Didaktischen Rekonstruktion (Kattmann, Duit, Gropengießer & Komorek, 1997). Dieses Konzept hebt hervor, dass es bei der Strukturierung von Unterricht auf die Verbindung zweier Perspektiven ankommt: die fachliche Perspektive und die Perspektive der Schülerinnen und Schüler. Aus einer primär fachlichen Perspektive kann ein sachlogischer Aufbau des Unterrichts entwickelt werden. Diese Perspektive muss aber unbedingt durch die Perspektive der Schülerinnen und Schüler ergänzt werden: Welches Wissen bringen sie zu dem jeweiligen Thema mit in den Unterricht? Haben sie eventuell grundlegende Fehlvorstellungen, die sich in Alltagssituationen dennoch bewährt haben? Welche spezifischen Lernschwierigkeiten gibt es? Die Verbindung dieser beiden Perspektiven kann an einem einfachen Beispiel aus dem naturwissenschaftlichen Sachunterricht der Grundschule verdeutlicht werden. Die Kinder sollen bereits in der Grundschule ein grundlegendes Verständnis des Luftdrucks entwickeln. Um verstehen zu können, dass Luft einen Druck ausüben kann (Luft drückt bspw. die Vakuumpackung mit Erdnüssen zusammen; der Luftdruck verhindert, dass Kondensmilch aus der Dose läuft, wenn nur ein Loch in die Dose gestochen wird), müssen Kinder erst verstanden haben, dass Luft nicht „Nichts“ ist und etwas wiegt. Dies zu verstehen, ist für viele Kinder jedoch gar nicht so einfach, da Luft in vielen Situationen nicht direkt wahrnehmbar und für „das Nichts“ („Das ist wie Luft.“) steht. Erst wenn Grundschulkinder verstanden haben, dass Luft tatsächlich ein Gewicht hat, können sie verstehen, dass Luft auch auf etwas anderes „drücken“ kann. An diesem Beispiel wird deutlich, dass hier sowohl eine fachliche Perspektive (Luft mit der Eigenschaft Masse bzw. „Gewicht“ als Voraussetzung für Luftdruck) als auch die Perspektive der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden, um eine strukturierte Unterrichtssequenz zu erhalten, in der die Kinder kumulativ lernen können.
Im anglo-amerikanischen Raum hat sich das Konzept der learningprogression (Alonzo, 2012) etabliert. Ganz ähnlich wie bei dem Konzept der Didaktischen Rekonstruktion wird hier versucht, die fachliche Perspektive und die Perspektive der Lernenden zu berücksichtigen, um Unterrichtssequenzen und Curricula zu entwickeln, die kumulatives und verständnisvolles Lernen unterstützen. Learning progressions liegt außerdem die Idee zugrunde, dass es qualitativ unterschiedliche individuelle Wege zum Verständnis eines fachlichen Konzeptes geben kann. Beispiele und Verweise auf learningprogressions zu (naturwissenschaftlichen) Konzepten finden sich bei Alonzo (2012).
Eine wichtige Konsequenz aus der Forderung, kumulatives Lernen zu unterstützen, ist die Konzentration auf zentrale fachliche Konzepte und Methoden im Rahmen schulischer und vorschulischer Bildung. Im Bereich der Mathematik wird bspw. von Leitideen gesprochen, im Bereich der Naturwissenschaften von Basiskonzepten. Diese Konzepte können sich dann wie ein roter Faden durch fachbezogenes (vor-) schulisches Lernen ziehen.
Ein sehr gutes Beispiel für ein Curriculum, das kumulatives Lernen unterstützt, sind die Next Generation Science Standards aus den USA (National Research Council, 2012). Hier ist es gelungen, ein insgesamt kohärentes Curriculum vom Kindergarten bis zur Jahrgangsstufe 12 für den Bereich Naturwissenschaften zu entwickeln. Das Curriculum basiert auf einer überschaubaren Anzahl an sog. coreconceps, die beim Durchlaufen der Bildungsstufen zunehmend sophistiziert erarbeitet und verstanden werden können.
Literatur zum Thema
Alonzo, A. (2012). Learning progressions: Significant promise, significant challenge. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 15, 95-110.
Kattmann, U., Duit, R., Gropengießer, H., & Komorek, M. (1997). Das Modell der Didaktischen Rekonstruktion – Ein Rahmen für naturwissenschaftsdidaktische Forschung und Entwicklung. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 3, 3-18.
Download unter: http://archiv.ipn.uni-kiel.de/zfdn/jg3h3.htm
National Research Council (2012). A Framework for K-12 Science Education: Practices, Crosscutting Concepts, and Core Ideas. Washington, DC: The National Academies Press.
Download unter: http://www.nap.edu/catalog.php?record_id=13165
Redaktionell verantwortlich: Katharina Wucke, SenBJF
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